Atypische Narrative. Figuren und Figurenlehren im 17. Jahrhundert

26 02 2010

Fristende: 31. März 2010

Veranstalter: Forschungsstelle „Signaturen der Frühen Neuzeit“, Lehrstuhl Prof. Dr. Rudolf Schlögl, Universität Konstanz

Termine: Vorbereitungsworkshop: 24.-25.06.2010; Haupttagung: 28.-29.10.2010.

Webseite: http://www.geschichte.uni-konstanz.de/signaturen-der-fruehen-neuzeit

An der Tagung „Atypische Narrative“ sollen mehr als nur historische Figuren im Zeitalter des Barocks behandelt werden. Ziel ist eine Reflexion über das Figurale als historisch-analytische Darstellungskategorie. Figurale Darstellung – so die Ausgangshypothese, die an der Tagung kritisch überprüft werden soll — bedeutet in der Frühen Neuzeit eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Beständigkeit und Variation. Diese komplexe Zeitlichkeit lässt sich mit der christlichen Typologie begründen, die den historischen Ausgangspunkt für das neuzeitliche Sprechen in Figuren bildet. Möchte man ein theoretisch reflektiertes Konzept der Figur entwickeln, gilt es deshalb, das Verhältnis von Figur und Typologie präziser zu bestimmen.

Wie Erich Auerbach in seinem Aufsatz über die „figura“ beschrieben hat, erfährt die Semantik derselben im Mittelalter eine signifikante Umkodierung. Das Wort taucht im Rahmen der christlichen Typologie auf, d.h. in der Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament, welche die Figuraldeutung leistet. Dort sorgt die Figur für zeitliche Korrespondenzen: „figura ist etwas Wirkliches, Geschichtliches, welches etwas anderes, ebenfalls Wirkliches und Geschichtliches ankündigen und darstellen soll“. Das Konzept der Figur dient der Herstellung einer historischen Differenz, die allerdings durch die Darstellung des Vorgängigen als Präfiguration des Nachherigen zugleich auch überblendet und bewältigt wird. Es ist kaum ein Zufall, dass Auerbachs Aufsatz am Ende einer Konjunktur von Typologien in der Zwischenkriegszeit erscheint. Indem er die Figur behandelt, macht er auf die unterdrückte Zeitlichkeit im Zusammenhang mit dem Typus aufmerksam. Man kann die historische Darstellung der Bedeutungsgeschichte des Begriffs „figura“ auch als implizite Kritik an Typologien lesen, wie sie unter anderem Max Weber mit seiner Lehre von den Idealtypen aufgestellt hat. Gerade weil Figuren als zeitliches Differential dienen, eröffnen sie innerhalb des typologischen Denkens einen Spielraum, der auch das Atypische zur Darstellung kommen lässt und zwar in Form der Umwege von Figuren auf dem Weg zur typologischen Schließung.

Auch das 17. Jahrhundert erlebt eine Konjunktur des typologischen Denkens. Entsprechend kennt es eine Vielzahl von Figuren: den Prinzen des Fürstenspiegels, den Hausvater der Oikonomiken, den Marrano der Inquisition, den Melancholiker der Morallehren, das Monster der Naturgeschichte, die Fortuna der Emblematik. Die Massierung und Diversifizierung von Figuren im 17. Jahrhundert ist ein Zeitzeichen — gehört zu den Signaturen der Frühen Neuzeit; die Konjunktur von Figuren ist Ausdruck einer sozialen und historischen Dynamik, die in den Figurenlehren zur Darstellung kommt und durch sie zugleich bewältigt werden soll. Die Reproduktion von Ordnung braucht Zeit, und die Zeit führt zur Differenzierung. Deshalb geht sie mit Verschiebungen, Variationen und Verrückungen des Überlieferten einher. Indem Figuren solche Veränderungen, Transformationen und Umbrüche einem Kontinuitätsprinzip unterstellen, dienen sie der Erhaltung einer symbolischen Ordnung, in der Dinge und Menschen ihren vorgeschriebenen Platz haben. Die Verzeitlichung von Typologien, die in den Figuren und ihren Irrwegen zur Darstellung gelangt, ist kennzeichnend für das bewegte 17. Jahrhundert. Figurale Darstellung stellt eine Form von Kontingenzbewältigung dar. Sie eröffnet einen Oszillationsspielraum innerhalb symbolischer Ordnungen, der die Einschreibung und Reflexion von Differenz ermöglicht.

Figurale Darstellung wird im Barock durch umfassende mediale, administrative und kulturelle Dispositive gesichert. So fällt das Register unter die figuralen Aufschreibetechniken, insofern es Menschen und Dinge zwingt, an einem vorgeschriebenen Ort wiederzukehren. Eine vergleichbare Funktion erfüllen auch Formulare. Eine weitläufige Ratgeberliteratur, die von den Oikonomiken bis hin zu den Teufelbüchern reicht, aber auch politische Literatur wie die neozistischen Schriften von Lipsius umfasst, gibt Anweisungen, wie richtiges Rollenverhalten unter sich verändernden Umständen aussehen sollte. Im Rahmen des Romans ist es der Pikaro, dessen Lebenslauf als Rahmen dient, um eine Unzahl von Ereignissen und Episoden am Leitfaden einer Figur zu erzählen. Dieser Katalog von Bereichen, in denen figurales Denken und figurale Darstellungstechniken eine Rolle spielen, soll an der Tagung erweitert werden.

Figuren liefern also über die Beschreibung von Ordnungen des Sozialen und des Wissens hinaus einen Beitrag zu deren Reproduktion. So möchte die Tagung sowohl nach den Figuren fragen, die im 17. Jahrhundert zwischen Altem und Neuem vermitteln, als auch nach den figuralen Verfahren, in denen dies umgesetzt wird: nach den Praktiken, Medien und Narrativen, welche die verlässliche Wiederkehr von Figuren ermöglichen, und die trotzdem dasselbe nicht dasselbe sein lassen.

Zu folgenden Themenschwerpunkten sind Beiträge denkbar:

  • Exemplarische Umkodierungen von Figuren im 17. Jahrhundert: Hausvater, Fortuna, Pikaro etc.
  • Figurale Aufschreibe- und Darstellungstechniken: Formular, Register, Emblematik etc.
  • Narratologien des Figuralen: Systematische Überlegungen zur Rolle von Figuren in der Überlieferung von Wissen und den damit zusammenhängenden Zeitkonzepten.

Die geplante Veranstaltung wird aus einem Vorbereitungsworkshop und einer Haupttagung bestehen. Am Workshop soll ohne Vorträge und in Form von Kurzpräsentationen eine gemeinsame Grundlage für die Tagung erarbeitet werden. Ein Tagungskonzept mit ausführlichen Literaturverweisen ist auf der Homepage der Forschungsstelle zu finden (http://www.geschichte.uni-konstanz.de/signaturen-der-fruehen-neuzeit). Eine Publikation in integrierter Form ist geplant. Vorschläge für Beiträge (max. 1 Seite) bis 31.03.2010 bitte an:

Robert Suter
Joel Lande
robert.suter[at]uni-konstanz.de
joel.lande[at]uni-konstanz.de

Universität Konstanz, Forschungsstelle „Signaturen der Frühen Neuzeit“
Fach 213
78457 Konstanz





Figur in fiktionalen Welten

5 12 2009

URL: http://www.uni-bielefeld.de/ZIF/AG/2007/02-28-Schneider.html

[Thomas Bitterlich, Leipzig] Unter der Leitung von Ralf Schneider (Bielefeld), Jens Eder (Hamburg) und Fotis Jannidis (Darmstadt) trafen sich 2007 Literatur- und Kulturwissenschaftler, um den wissenschaftlichen Diskurs über Figuren zu befördern. Der Vielfalt von Figuren in den verschiedensten Gattungen und Medienprodukten, so ihre Feststellung, stehe keine adäquate Theoriebildung gegenüber. Es würden lediglich disperate Ansätze existieren und deshalb stand der wissenschaftliche Austausch, aber auch die Vorstellung integrativer Ansätze im Vordergrund.

An mehreren Stellen ging aus den Beiträgen und Diskussionen hervor, dass kognitivistische Ansätze über die Mediengattungsgrenzen hinweg erheblichen Einfluss auf die Figurentheorie ausüben, wenngleich wiederum auf sehr unterschiedliche Weise. So wurde gezeigt, dass kognitionswissenschaftliche Modelle und Erkenntnisse einerseits das Augemerk auf Prozesse der Informationsverarbeitung bei der Lektüre bzw. dem Betrachten fiktionaler Figuren lenken können, was auch die Dimensionen von Distanzierung und Involvierung gegenüber der Figur sowie das Phänomen der Empathie als emotional-kognitives Nachvollziehen von Figurenerleben beinhaltet.

Leider sind die Beiträge dieses Symposiums noch nicht veröffentlicht worden. Unser Sammelband wird im Unterschied zu diesen Bemühungen, soweit  erkennbar, über die Kulturwissenschaften hinausgehen und Beiträge von Mathematikern und Psychologen einwerben. Uns geht um das Potential des Begriffs für verschiedene Disziplinen, während die Bielefelder Arbeitsgruppe ontologisch auf die Beziehung von Text und Figur  fokussiert.