Dietmar Till: Grundlagenarbeit im Bereich der Narratologie

21 12 2009

URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=9392

Rezension zu: Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin: Walter de Gruyter Verlag. 2004

[Alexander Datz, Leipzig] Trotz der überwältigenden Präsenz von Figuren in Erzähltexten würde keine „substanzielle Theorie der Figur“ in der Literaturtheorie existieren.

Diese möchte die literaturtheoretisch ausgerichtete Studie liefern; sie leistet damit Basisarbeit an den Fundamenten der germanistischen Literaturwissenschaft, die sich, so die Diagnose des Verfassers, bis dato mit der „Teilnahme an der internationalen Forschung“ auf dem immer weiter expandierenden Feld der Narratologie schwer tue.

Dafür erbringe Jannidis eine  besondere Vermittlungsleistung, indem er neuere Strömungen der internationalen Diskussion aufbereitet.

Die neuere Narratologie wendet sich vom älteren strukturalistischen Paradigma (repräsentiert vor allem durch Autoren wie Roland Barthes und Gérard Genette) vor allem darin ab, dass erzählende Texte nicht mehr als statische Gebilde beschrieben werden. Narrative Texte – Zeitstrukturen, die Erzählerstimme aber auch die Figuren – entstehen vielmehr erst im Kopf des Lesers, also in einem Interaktionsprozess zwischen dem Erzähltext und dem Rezipienten.

Das kulturelle Wissen des einzelnen Lesers trage damit ebenso viel zur Sinnstiftung und zur Konstruktion der erzählten Welt bei, wie die Strukturen des Textes. Damit folge Jannidis einer rezeptionstheoretischen Ausrichtung, die seit den 1990er Jahren auch als ‚kognitive‘ oder ‚kulturwissenschaftliche‘ Wende in der Narratologie bezeichnet würde.

Der Einbezug des Lesers ergebe aber auch das hermeneutische Problem seiner historischen Situiertheit. Damit würde die kognitive Wende der Narratologie zu einer „konsequenten Historisierung des Rezeptionsprozesses“ führen. Jannidis konzeptualisiere dies durch ein Model ‚inferenzbasierter Kommunikation‘, indem der Rezipient in „einem dynamischen Lektüre-Prozess durch wahrscheinliche Schlüsse Mutmaßungen über die erzählte Welt“ anstellt. Damit wäre der Weg zu einer stärkeren Berücksichtigung der historischen Dimension durch „Cultural Analysis“ eröffnet. Erst das alltagsweltliche Wissen des Lesers als Menschen, ließe ihn die Figur als einem ‚Basistypus‘ erkennen. In diesem Sinne beschäftigt sich Jannidis vorrangig mit anthropomorphen Figuren, ohne allerdings gender-orientierte Ansätze der Narratologie einzubeziehen, die unsere nicht ausgesprochenen Annahmen zu Figur und Stimme explizieren und dekonstruieren würden.

Die Informationsvergabe, die schließlich zur Identifikation einer Figur und ihrer ‚Präsenz‘ im Text führen würde, wird zwar durch den Text gesteuert, die Figur konstituiere sich aber erst im Rezeptionsprozess ‚dynamisch‘, indem der Figuren-‚Code‘ des Textes und die Mutmaßungen des Lesers, basierend auf bestimmten Schemata ( z.B. Annahmen über ihr Verhalten in bestimmten Genres)  im Rahmen ‚inferentieller Kommunikation‘ zwischen Leser, Text und Kontext entschlüsselt würde.

Fotis Jannidis‘ Buch ist der ambitionierte Versuch, Grundlagenarbeit im Bereich der Narratologie zu leisten. Es bietet ein konsistentes erzähltheoretisches Modell, dessen Leistungsfähigkeit in der Praxis in konkreten Analysen allerdings erst noch zu prüfen wäre.